Challenge Based Learning mit Parkour

Blick in die Tiefe. Meine Füße finden gerade so hintereinander Platz auf dem schmalen Balken einer Überführung. Direkt vor und neben mir geht es knapp 6 Meter in die Tiefe. Unten Treppenstufen, Mauern, Passanten. Trotz langer Parkour-Erfahrung keine Situation, in der man einen Sturz irgendwie leicht abfangen könnte. Es ist noch früh, kalt, leichter Nieselregen. Nicht gerade eine bequeme Situation für einen Sonntagmorgen. Aber ich versuche trotzdem weiter ruhig zu stehen, meine Gedanken und Emotionen zu beobachten und mein Gewicht langsam auf das rechte Bein zu verlagern. Auf einem Bein stehen, eigentlich eine Sache die jedes Kind kann. Aber mit Kälte, Nässe und dem Sturz als sehr reale Konsequenz lässt sich mein Kopf nicht so ganz von der Idee überzeugen, jetzt einen Fuß vom Balken zu lösen. Warum verbringt jemand freiwillig seinen Sonntag hier oben? Mein Grund dafür liest sich erstmal wie ein pathetischer Kalenderspruch:

IF IT DOESN'T CHALLENGE YOU, IT DOESN'T CHANGE YOU

Ohne Herausforderung keine Veränderung. Diese Erkenntnis ist so banal wie richtig: Wir machen dann die größten Fortschritte, wenn wir unsere Komfortzone verlassen und neue Erfahrungen außerhalb des uns Bekannten sammeln. Der Grundgedanke ist nicht neu. In der Pädagogik und Didaktik gibt es längst diverse Ansätze, die Herausforderungen als zentrale Lernmethode nutzen, sei es Experience-Based Learning, Problem-Based Learning, Entrepreneurial Challenge-Based Learning und Facetten der handlungsorientierten Didaktik. Diesen Konzepten liegt der Gedanke zugrunde, dass  die zu bewältigenden Aufgaben unseres Alltags immer komplexer werden und Wissen gleichzeitig eine immer geringere Halbwertszeit hat. Deshalb gilt es neben der Wissensvermittlung den Fokus zunehmend auf den Aufbau von Kompetenzen (variabel einsetzbare Problemlösefähigkeiten) und Metakompetenzen (die Anpassungsfähigkeit der eigenen Kompetenzen an neue Anforderungen) zu legen. Und eben diese (Meta-)Kompetenzen lassen sich besonders gut aufbauen, indem man die Lernenden mit Herausforderungen konfrontiert. Aber was genau hat das mit Parkour zu tun?

Ein Leben mit Hindernissen

Ganz einfach: Lernen durch Herausforderungen liegt in der Natur von Parkour. Das ständige Auseinandersetzen mit den eigenen Grenzen, die bewusste Suche nach neuen Herausforderungen, die Vorbereitung auf alle Eventualitäten und die Anpassung an ständig neue Hindernis-Situationen sind fester Bestandteil der Parkour-Trainingsmentalität. In der Praxis heißt das: Die Suche nach Challenges am Rande des persönlichen Limits sind Bestandteil jedes Parkour-Training. Dazu zählen physische Challenges, wie eine 20 Meter lange Mauer entlang zu hangeln ohne den Boden zu berühren und eben auch mentale Herausforderungen, wie sich bewusst einer Grenzerfahrung in Höhe, Kälte und Regen auszusetzen. Neben der Tatsache, dass diese Challenges das eigene sportliche Niveau im Parkour steigern, haben sie einen noch viel wichtigeren langfristigen Effekt: Wir gewöhnen uns daran, Herausforderungen als etwas Positives zu sehen.

Überwinden ist das neue Ausweichen

Als ich mit Parkour angefangen habe, hat mir jemand erzählt, dass Parkour kein Sport, sondern eine Lebenseinstellung ist. Weil wir die Erfahrungen, die wir beim Überwinden realer Hindernisse im Training sammeln, auch auf abstrakte Hindernisse im Leben, wie Klausuren, Bewerbungsgespräche und so gut wie alle anderen persönlichen Probleme übertragen können. Für mich klang das damals weit hergeholt, bestenfalls metaphorisch und wenig greifbar. Aber wenn ich mittlerweile zurückdenke, wird mir klar, wie stark das Training meine Denkweise unbewusst geprägt hat. Die erste Veränderung begann noch zu Schulzeiten: Ich fing unbewusst an, unangenehme Situationen aktiv anzugehen anstatt ihnen auszuweichen. An den Punkten  zu arbeiten, die notwendig waren, um das Problem zu überwinden. Das waren banale Ängste wie die Führerscheinprüfung oder tieferliegende Dinge wie Schüchternheit, die ich vorher verdrängt, verschoben oder als gottgegeben akzeptiert habe. Kurz vor dem Abi ging der Einfluss dieses neuen Parkour-Mindsets auf mein Leben noch weiter: Anstatt mich nur bestehenden Problemen zu stellen, habe ich angefangen, auch außerhalb des Sports bewusst Herausforderungen zu suchen, an denen ich wachsen kann. Von kleinen Alltags-Challenges, wie 30 Tage kalt zu duschen um meine Willenskraft herauszufordern, bis zu großen Projekten wie meiner ersten Gründung parallel zum Abi. Ich habe langsam Spaß daran entwickelt, mich in allen Lebensbereichen absichtlich in Herausforderungen und unangenehme Situationen zu stürzen. Ich wurde ständig gefragt, warum ich mir den Stress eigentlich antue. Nur hat sich das für mich nicht wie Stress angefühlt.

Ich habe das damals nicht hinterfragt, aber rückblickend denke ich, dass die Selbstverständlichkeit, mit der man Challenges bei Parkour als etwas Positives wahrnimmt, eine große Rolle bei diesem Paradigmenwechsel gespielt hat. Wenn ich mein Parkour-Umfeld betrachte, hat sich bei vielen Parkourläufern ein solcher Automatismus entwickelt: Unbekannte Situationen und neue Herausforderungen als etwas Positives wahrzunehmen und mit Motivation und Neugier anstatt mit Stress, Angst oder Resignation auf sie zu reagieren. Aber lässt sich so eine Einstellung überhaupt im Rahmen eines Schulprojekts lehren, vermitteln und gezielt bei Schülern aufbauen? Und zwar am besten ohne sie mehrere Meter über dem Boden auf einem Balken in lebensgefährlichen Situationen balancieren zu lassen? Ich denke schon – wenn die Herangehensweise stimmt.

Der Challenge-Lernkreis

Lernen durch Herausforderungen ist kein Hirngespinst von Adrenalinjunkies, sondern theoretisch fundiert. Ein verbreitetes Modell ist etwa der Challenge-Lernkreis, laut dem wirkungsvolles Lernen durch Herausforderungen vier Bestandteile benötigt:

Der Challenge-Feedback-Lernkreis nach Sternad & Buchner (2015): Lernen durch Herausforderung

Dieser Lernkreis lässt sich anhand eines Parkour-Trainings konkret und nachvollziehbar mit Leben füllen. Herausforderungen finden sich in Form realer Hindernisse in jedem Training, z.B. in Form einer 3 Meter hohe Mauer, die den Weg versperrt. Ebenso findet sich das aktive Handeln des Teilnehmers: Der Versuch, die Mauer zu überwinden. Das unmittelbare Feedback zeigt sich darin, ob man das Hindernis überwunden hat oder ob die Mauer (vorerst) gewonnen hat. Dazu kommt Feedback zur eigenen Herangehensweise von Trainern oder Trainingspartnern. Zuletzt erfolgt die Selbstreflexion, insbesondere beim Scheitern. Scheitern und das Hinterfragen der Gründe kommt unumgänglich, wenn man mit Hindernissen am Rande seiner Leistungsfähigkeit arbeitet: Warum bin ich nicht über die Mauer gekommen? Was kann ich tun, um das Hindernis im nächsten Versuch zu bewältigen? War ich nicht stark genug, nicht schnell genug oder hat meine Angst mich aufgehalten? Was kann ich dagegen tun? Meine Technik anpassen, gezielt meine Kraft in bestimmten Körperregionen trainieren, mich langsam herantasten, nach Hilfe(stellungen) fragen, eine rationale Risikobetrachtung machen?

Dieses kleine Beispiel aus dem Trainingsalltag macht deutlich, dass die Schritte des Challenge-Lernkreises in so gut wie jeder Parkour-Challenge von Natur aus vorhanden sind. Allerdings führen die Schritte an sich hier erstmal „nur“ zu ganz konkreten Erkenntnissen für das eigene Parkour-Training: Warum bin ich gescheitert und woran muss ich arbeiten um diese 3 Meter hohe Mauer überwinden zu können. Wie aber kommen wir von diesen sehr spezifischen Erfahrungen zum angestrebten Paradigmenwechsel?

Kein Problem mehr mit Problemen

Dafür muss noch ein entscheidender Schritt erfolgen, der den ganzen Challenge-Lernkreis umfasst: Neben der Reflexion der konkreten Challenge muss auch eine Abstraktion des generellen Umgangs mit Herausforderungen an sich erfolgen. Sprich: Nachdem die Teilnehmer konkrete Erfahrungen mit den Parkour-Challenges gesammelt haben, müssen sie ihren grundsätzlichen Umgang mit diesen Challenges reflektieren und hinterfragen, wie sie diesen Prozess auf Herausforderungen in anderen Lebensbereichen übertragen können. Und bestenfalls: Wie sie für sich die passenden Herausforderungen kreieren können, um bewusst bestimmte Erfahrungen sammeln und angestrebte Kompetenzen aufbauen zu können.

Am Ende dieses Prozesses steht die Erkenntnis, dass Herausforderungen als Wachstumschancen begriffen werden können und die Teilnehmenden sind in der Lage, Herausforderungen in ihrem Leben strukturierter und positiver gegenüberzutreten und im Idealfall sogar ihren eigenen Lernprozesse durch selbstgewählte Herausforderungen bewusst zu gestalten. Um diese persönliche Entwicklung im Kontext von Schule und Jugendarbeit zu ermöglichen, haben wir das StreetSkillz Potential-Coaching „Challenge for Change“ entwickelt. Dieses Konzept baut auf dem dargestellten Lernkreis auf und verbindet praktische Parkour-Challenges mit darauf abgestimmten Feedback- und Reflexionsprozessen, um Jugendlichen auf praktische und verständliche Weise das Potential von Herausforderungen näherzubringen. Und oft braucht es dafür nicht mal einen Spaziergang auf einem schwindelerregend hohen Balken am Sonntagmorgen.

Möchten Sie mehr über das „Challenge for Change“ Konzept erfahren oder ein Potential-Coaching mit ihrer Klasse oder Jugendgruppe planen? Dann schreiben Sie uns!

Über Potential-Coachings von StreetSkillz

Die Potential-Coachings von Street Skillz nutzen die pädagogische Kraft urbaner Sportarten zur Vermittlung von Handlungskompetenzen und Persönlichkeitsentwicklung von Jugendlichen. Mit Sport als Werkzeug gestalten wir herausfordernde Situationen für die Teilnehmer und reflektieren gemeinsam Erfahrungen und Entscheidungen. Die zielgerichteten Reflexionsprozesse im Zusammenspiel mit den praktischen Erlebnissen ermöglichen tieferliegende Erkenntnisse und neue Blickwinkel auf vielfältige Themen, etwa den Umgang mit Angst, Selbstwirksamkeit oder das eigene Kommunikationsverhalten. Mehr erfahren

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